Sonntag, 20. Januar 2013

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Viktor Krieger, Heidelberg
Vortrag zur Podiumsdiskussion beim Bundestreffen in Wiesbaden, 26.05.2007


Bundesbürger rußlanddeutscher Herkunft:
Die identitätsstiftende Funktion geschichtlicher Erfahrungen

Im Zarenreich
            Unter Rußlanddeutschen verstehen wir hauptsächlich Nachkommen der handwerklich-bäuerlichen Einwanderer aus Westeuropa, in erster Linie aus den deutschen Kleinstaaten, die im 18. und 19. Jahrhundert zur Urbarmachung im unteren Wolga- und im Schwarzmeergebiet angesiedelt wurden. Zu diesen wichtigsten Ansiedlungsgebieten zählten noch weitere zerstreut angelegte Siedlungen in Wolhynien, im Transkaukasus oder in der Umgebung von St. Petersburg sowie auch vereinzelte Handwerkerkolonien in den Städten.
            Sie kamen in ein Land, daß im Laufe der territorialen Expansion seit dem 15. Jahrhundert sein Staatsgebiet um das 52fache vergrößerte und letztendlich ein Sechstel der Landfläche der Erde umfaßte. Im Zuge von zahlreichen Eroberungs- und Annexionskriegen, aber auch durch friedliche Eingliederungen mehrerer Grenzgebiete wurden in das Russische Reich zahlreiche Hochkulturen und „primitive“ Völker einverleibt. In den meisten Fällen blieb jedoch ihre Sozialstruktur, Sprache, Wirtschafts- und Lebensweise unangetastet. Das Ziel war dabei nicht die Assimilation an die staatsbildenden Russen; als oberstes Gebot für die Unterworfenen galten der Reichspatriotismus und die Loyalität dem herrschenden Haus gegenüber.
Karte der territorialen Expansion Rußlands zwischen 1462-1914.

Karte der territorialen Expansion Rußlands zwischen 1462-1914.

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            Eine weitere Besonderheit der russischen Geschichte ist als Folge dieser Entwicklung anzusehen: die Binnenkolonisation. Etwas überspitzt sagte der berühmte Historiker Wassili Kljutschewski: „Die Geschichte Rußlands ist die Geschichte eines der Kolonisation unterliegenden Landes.“ Die Besiedlung der eroberten und zum Teil fast vollständig unbewohnten Territorien durch Russen und in geringerem Maße auch durch Ukrainer mit dem Ziel einer festen Anbindung an das Reich dauerte jahrhundertelang an und konnte noch Mitte des 20. Jahrhunderts (Neuland-Aktion in Kasachstan) beobachtet werden.
            In diese Tradition der Urbarmachung und der Besiedlung des eroberten Landes mit zuverlässigen Bevölkerungselementen reiht sich auch die Anwerbung von ausländischen Kolonisten ein. Die kaiserlichen Beamten bestimmten für sie menschenleere Gebiete zur Ansiedlung und legten geschlossene Dorfgruppen und ganze Bezirke an. Von Anfang an wurde die im Einladungsmanifest aus dem Jahre 1763 versprochene freie Ortswahl unterlaufen, vor allem das Seßhaftwerden in den Städten verhindert. Zahlreiche Handwerker und Freiberufler sahen sich dadurch zum Ackerbau gezwungen, was vor allem die Siedler an der Wolga betraf. Durch einen neu geschaffenen „Kolonisten-Stand“ wurden sie von der übrigen Bauernbevölkerung abgegrenzt und einer Vormundschaftskanzlei in St. Petersburg mit (Fürsorge)Kontoren in Saratow und Odessa unterstellt. Die Einführung des Deutschen als Amtssprache hemmte jahrzehntelang das Erlernen der russischen Sprache – um in erster Linie den befürchteten Einfluß des Protestantismus und Katholizismus auf orthodoxe Bauern zu vermeiden. Überhaupt spielten ständische Schranken und konfessionelle Unterschiede im Zarenreich eine stark trennende Rolle. Konfessionsverschiedene Ehen waren eine Ausnahme; Kinder aus Mischehen mit Russen mußten orthodox getauft und erzogen werden.
            Unter solchen im Vergleich zur alten Heimat Deutschland völlig anderen politischen, sozialen, geographischen und klimatischen Bedingungen begann sich ein neues ethnisches Selbstverständnis herauszubilden: man sah sich als stolzer russischer Kolonist und wurde auch so von den Nachbarvölkern wahrgenommen. Das kennzeichnete vor allem die in einem kompakten Siedlungsgebiet lebenden Wolgadeutschen mit ihrem starken Zusammengehörigkeitsgefühl, die sich unübersehbar zu einer neuen Ethnie des Übersiedlungstyps – ähnlich den Frankokanadiern – entwickelten.
Karte der deutschen Siedlungsgebiete im Russischen Reich vor 1917.

Karte der deutschen Siedlungsgebiete im Russischen Reich vor 1917.

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            Die Aufhebung der staatlichen Sonderverwaltung für die ausländischen Kolonisten im Jahre 1871 und ihre Eingliederung in die allgemeine Verwaltung - eine logische Konsequenz der Großen Reformen der 1860er Jahre (darunter die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht) - hat an diesen Gegebenheiten wenig geändert. Historisch gewachsene Landkreise mit mehreren Siedlungen besaßen nach wie vor einen hohen Grad an lokaler Selbstverwaltung, der Unterricht in der Grundschule verlief – trotz einiger Änderungen – weiterhin auf Deutsch und konfessionelle Schranken wirkten auch künftig trennend. Durch all diese Umstände erklären sich die im wesentlichen erhalten gebliebenen sprachlichen und kulturellen Merkmale der Ansiedler bis zum Ende der Monarchie.
            Die deutschen Bauern nahmen an der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung des Russischen Reiches regen Anteil: bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges vervierfachte sich ihr Landbesitz und betrug um die 8 Mil. Ha. Fast die Hälfte der landwirtschaftlichen Maschinen und Geräte im Schwarzmeergebiet – dem Hauptstandort dieses industriellen Zweiges in Rußland – wurde von Betrieben in den ehemaligen Kolonien oder derjenigen mit rußlanddeutschen Inhabern hergestellt. In ihren Händen lagen auch an der Wolga wichtige Industriezweige wie die Mühlen- oder Textilindustrie (Sarpinkaproduktion). In der Wein- und Kognakproduktion spielten die schwäbischen Kolonien im Transkaukasus eine bedeutende Rolle.
            Die Russischkenntnisse nahmen allmählich u.a. durch den Armeedienst zu und waren nach der Volkszählung von 1897 höher als die der meisten anderen nichtrussischen Ethnien des Imperiums. Immer mehr drängte die Jugend in die Städte, besuchte russische Realschulen und Gymnasien, ließ sich in die höheren Schulen und Universitäten des Landes immatrikulieren. Nach der Einberufung des ersten russischen Parlaments, der Reichsduma im Jahre 1906, vertraten dort Abgeordnete wie Ludwig Lutz oder Jakob Dietz die Interessen der Schwarzmeer- bzw. der Wolgadeutschen. Vor allem die naheliegenden Großstädte Odessa und Saratow waren für die intellektuelle und geistige Entwicklung der deutschen Minderheit von eminenter Bedeutung.
Die Postkarte, 1913.

Der erste Professor wolgadeutscher Herkunft an der Universität Saratow,
der Sprachwissenschaftler Georg Dinges (1891-1932).


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            Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählte man allein in den Gouvernements Saratow und Samara ungefähr 600.000 russische Bürger - ehemalige Kolonisten, die einen Raum vergleichbar der Größe nach mit Rheinland-Pfalz (ca. 20. Tsd. km²) ober- und unterhalb der Regionalmetropole Saratow bevölkerten. Die intellektuelle Schicht der Wolgadeutschen nutzte im Jahre 1914 das hundertfünfzigjährige Jubiläum der Gründung der ersten Kolonien für eine eindrucksvolle Demonstration des gewachsenen Selbstbehauptungswillens in verschiedenen publizistischen Auftritten, Festschriften und historischen Darstellungen. Leider vereitelte der ausgebrochene Krieg den Großteil dieser Vorhaben. Auch die kurz vorher begangenen Festivitäten im Schwarzmeergebiet zum 100. Jahrestag der Gründung einzelner Siedlungsbezirke legten ein beredtes Zeugnis eindeutiger Verbundenheit der Mehrheit der Deutschen mit ihrem russischen Vaterland ab. Allerdings hatte sich im Zarenreich noch kein übergreifendes nationales Bewußtsein herausgebildet; man nannte sich nach den geographischen Siedlungsräumen Wolgadeutsche, Schwarzmeerdeutsche (oder südrussische Kolonisten), auch Krimdeutsche, südrussische Mennoniten, Kaukasusdeutsche, Wolhyniendeutsche usw.
Kufeld D. Das Lied vom Küster Deis.

Kufeld D. Das Lied vom Küster Deis. 1914.

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            Überbevölkerung und Landknappheit trieben in den zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den räumlichen und sozialen Wandel voran: der landlose Bauer sah sich gezwungen, entweder in Handwerker- oder industrielle Berufe zu wechseln oder auswärts zusätzliches Land zu erwerben. Durch beträchtliche Wegzüge aus den alten Siedlungen (sog. Mutterkolonien) entstanden zahlreiche Tochtersiedlungen – vorerst in der Umgebung, später dann im Nordkaukasus und im Ural, in der kasachischen Steppe und in Sibirien. Neben wirtschaftlichen und demographischen Faktoren führten die gesetzlichen Restriktionen beim Kauf von Land dazu, daß ein nicht geringer Teil der ehemaligen Kolonisten auswanderte, bezeichnenderweise nicht in die „Urheimat“ Deutschland, sondern in die Vereinigten Staaten, nach Kanada und in lateinamerikanische Staaten.
            Insgesamt zeichneten sich die Rußlanddeutschen im Zarenreich durch ausgeprägte Kaisertreue und Loyalität zu der vorherrschenden sozialen und politischen Ordnung aus und wurden von der Führungsschicht des Staates als systemstabilisierend betrachtet. Doch ihre rasante wirtschaftliche Entwicklung, vor allem im Schwarzmeergebiet, der expandierende Landbesitz sowie die schnelle Verbreitung des protestantischen Glaubens (Stundismus) – der in den Kolonien entstanden ist – unter der russischen und ukrainischen Landbevölkerung, gekoppelt mit der Angst vor militärischer und wirtschaftlicher Potenz des gerade gegründeten Deutschen Reiches, provozierte erbitterte Pressekampagnen gegen russische Staatsbürger deutscher Herkunft, verleitete zu hastigen Russifizierungsmaßnahmen und anderen einschränkenden Bestimmungen. Ungeachtet dieser deutschfeindlichen Stimmung führte das sich herausgebildete nationale Selbstbewußtsein der ehemaligen Kolonisten neben ihrer traditionellen Gesetzestreue und Pflichterfüllung zu einer eindeutigen Parteinahme zugunsten des Russischen Reiches im Ersten Weltkrieg: Zehntausende Schwarzmeer- und Wolgadeutsche kämpften als russische Soldaten an der Front gegen Deutschland und seine Verbündeten.
Mennoniten im Sanitardienst, 1915.      Antideutschen Pogrom in Moskau, 1915.

Erster Welkrieg und die Rußlanddeutschen.

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            Im Verlaufe des Krieges nahmen jedoch die diskriminierenden Maßnahmen, zunehmends von Behörden und Militärverwaltung ausgehend, existenzbedrohliche Ausmaße an. Es folgten Zwangsaussiedlungen von etwa 200.000 Wolhynien- und anderen Gruppen der Deutschen aus den frontnahen Gebieten, schwere antideutsche Pogrome im Mai 1915 und gesetzliche Regelungen zu Enteignung ihres Landbesitzes, eine sog. Liquidationsgesetzgebung. Aber die Zivilgesellschaft war in Rußland noch weitgehend intakt, und so regte sich der politische und gesellschaftliche Widerstand und Protest von Seiten der linken Duma-Abgeordneten, der lokalen Verwaltung in Ortschaften mit deutscher Bevölkerung und auch seitens einiger Kulturgrößen, die sich nicht in den Dienst antideutscher Propaganda stellen ließen. Zu diesen Menschen gehörte der berühmte russische Schriftsteller Wladimir Korolenko, auch Rußlands Gewissen genannt. In einem Aufsatz „Über den Kapitän Kühnen“ für die liberale Zeitung „Russkie Wedomosti“ im November 1916 zeigte er teilnahmsvoll und mitfühlend, was in jener Zeit einem Rußlanddeutschen widerfahren konnte:
„… Er ist kein Untertan Deutschlands, sondern einfach ein russischer Deutscher, ein urwüchsiger Untertan des russischen Staates, der sein Leben lang am großen russischen Strom ehrlich gearbeitet hat. Nun ist er, vielleicht zusammen mit seiner Familie, von diesem Strom getrennt worden und muß neben Marktweibern mit Wassermelonen handeln… Auf diese Weise bekundet unsere liebe Wolga ihren Patriotismus. Nieder mit den Deutschen! Gemeint sind aber nicht die Deutschen, die unsere Gefechtsstellungen bei Dwinsk bestürmen oder an unsere südliche Tür über Rumänien hinweg klopfen. Gemeint ist unser Kapitän Kühnen, d.h. der Mann, der sich keiner Schuld bewußt ist... Dies ist eine, wie die breite Wolgaer Frühlingsflut, unnötige Ungerechtigkeit, derentwegen das gutmütige Rußland wohl Mitleid und Scham empfinden wird, wenn diese trübe Welle abgeflaut ist.“

Von der Machtergreifung der Bolschewiki bis zum deutsch-sowjetischen Krieg
            Aufgrund ihrer historisch bedingten wirtschaftlich-sozialen und geistig-religiösen Entwicklung waren die Nachkommen der deutschen Einwanderer als überwiegend ländliche und fast vollständig schriftkundige Bevölkerung, mit einer breiten Schicht wohlhabender Bauern für sozialistische Utopien schwer zu gewinnen. Den politischen und gesellschaftlichen Zielen der an die Macht gekommenen Bolschewiki stand die Mehrheit der Siedler skeptisch bis ablehnend gegenüber, was sich u.a. in zahlreichen Bauernaufständen der Jahre 1918-1921 und in anhaltender Protesthaltung der darauffolgenden Jahre äußerte. Die radikalen gesellschaftlichen Maßnahmen trafen vor allem die marktorientierten, größere Ländereien besitzenden Schwarzmeerdeutschen. Die administrativ-territoriale Reform von 1921-23 in der Ukraine ignorierte die Interessen der deutschen Bauern: geschichtlich und wirtschaftlich verwachsene nationale Landkreise und Kolonien wurden auseinandergerissen und an Dorfräte anderer Nationalitäten angegliedert, ungeachtet all den daraus resultierenden sozialen und wirtschaftlichen Nachteilen und erheblichen Verständigungsproblemen. Im Zuge der durch das „Dekret über das Land“ verordneten Enteignungen mußte der Großteil des deutschen Grundbesitzes an ukrainische Bauern abgetreten werden. Diese Benachteiligungen, zusammen mit der religiösen Unterdrückung, führten noch in den 1920er Jahren zu einer stark ansteigenden Emigration nach Kanada, vornehmlich der gut organisierten Mennoniten.
            Andererseits profitierten die Wolgadeutschen von der Nationalitätenpolitik der neuen Machthaber. Sie wurden ausdrücklich als ein selbständiges Volk anerkannt, ähnlich wie andere zahlreiche russische Ethnien, so etwa die Tataren, Tschuwaschen oder die Anfang des 17. Jahrhunderts an die Untere Wolga eingewanderten Kalmücken. Die Ausrufung der Arbeitskommune (autonomes Gebiet) im Oktober 1918, die sechs Jahre später zu der Autonomen Republik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) aufgewertet wurde, vollzog sich auf der Grundlage eines formal zugestandenen Selbstbestimmungsrechtes der Völker Rußlands. Obwohl im Rahmen des zentralistisch ausgerichteten Sowjetstaates die nationalen Republiken in Wirklichkeit jeglicher Selbständigkeit beraubt waren, wäre es doch ein großer Fehler gewesen eine territoriale Autonomie sowjetischer Prägung als reine Fiktion zu betrachten. In diesem Zusammenhang gilt festzustellen, daß in der UdSSR politische, sprachlich-kulturelle und sozioökonomische Entwicklungsmöglichkeiten einzelner Nationalitäten an das Vorhandensein einer territorialen Autonomie gebunden waren. Es handelte sich hier z.B. um einen ungehinderten Zugang zu höheren Bildungsanstalten, berufliche Aufstiegsmöglichkeiten, muttersprachlichen Schulunterricht, Erforschung und Pflege – wenn auch im sowjetischen Sinne – der nationalen Geschichte und Kultur (Eröffnung und Finanzierung von höheren Lehranstalten, wissenschaftlichen Forschungsinstituten, Theatern, Bibliotheken, Verlagen usw.). Bei Vertretern vor allem der jüngeren Generation, die von den neu geschaffenen Bildungs- und Aufstiegschancen profitieren konnten, stieß deshalb die sozialistische Gesellschaftsordnung auf gewisse Unterstützung.
Deutsches Literaturlesebuch, 1938.

Literaturlesebuch für deutschsprachige allgemeinbildende
Schulen in der Wolgadeutschen Republik.
Deutscher Staasverlag, Engels, 1938.


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Das Haftfoto von Prof. Georg Dinges (1891-1932).
            Bereits Ende der 1920er Jahre schlug die sowjetische Führung mit Stalin an der Spitze den Kurs einer radikalen Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft ein. Diese Wende zwischen 1928 und 1932 markierte den Übergang von einer Gesellschaft, geprägt von gewissen Zugeständnissen an die Privatwirtschaft, begrenzter politischer Meinungsfreiheit und kultureller Offenheit zu einer Mobilisierungsdiktatur unter Stalins Alleinherrschaft. Das Ergebnis dieser Politik war eine entscheidende Transformation der Sozialstruktur der ländlichen Bevölkerung: im Zuge der Kollektivierung verwandelte sich der selbständige Bauer in einen besitzlosen Lohnarbeiter, der vollständig vom Staat abhängig war, sei es durch die Mitgliedschaft in einer Sowchose (Sowjetwirtschaft) oder solch einer pseudogenossenschaftlichen Organisation wie die Kolchose (Kollektivwirtschaft). In den Städten verschwand ebenfalls jegliche Spur einer selbständigen Tätigkeit: Kleinunternehmer, Freiberufler, private Verleger u.ä.m. waren nicht mehr vorzufinden.
            Bei der deutschen Minderheit entlud sich der Protest gegen die Enteignungen und religiösen Verfolgungen Ende 1929 u.a. in einer massenhaften Auswanderungsbewegung. Zu dieser Zeit versammelten sich in Moskau um 14.000 Bauern und forderten eine freie Ausreise aus dem Land. Sie kamen in Kontakt mit der deutschen Botschaft und ausländischen Journalisten. Die sogenannte „Kolonistenaffäre“ bedeutete für die Sowjetunion einen enormen Prestigeverlust und führte zu einer merklichen Verschlechterung der deutsch-sowjetischen Beziehungen. Die bereits vorhandene Tendenz zur Unterbindung jeglicher, nicht direkt von Moskau genehmigter Beziehungen mit dem Ausland, verstärkte sich um so mehr, als sich erschütternde Zeugnisse und Hilferufe der bedrängten Bauern in den Meldungen der reichsdeutschen und ausländischen Presseorgane niederschlugen.
Anklage der Deutsche Botschaft, Mai 1929.

Mitteilung des Botschafters Herbert von Dirksen
aus Moskau über die Verfolgung der Gläubigen
unter der deutschen Minderheit, Mai 1929.


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Titel einer Broschüre, 1933.
            Während der schrecklichen Hungersnot der Jahre 1932-33 wandten sich viele in ihrer lebensbedrohlichen Lage an die Landsleute in Europa und Amerika, an die kirchlichen und gesellschaftlichen Organisationen in Deutschland, der Schweiz und anderen europäischen Ländern. Der Reichsausschuß „Brüder in Not“ (er wurde schon 1921 für die humanitäre Unterstützung der notleidenden deutschstämmigen Einwohner in Rußland konstituiert) organisierte mit viel propagandistischem Aufwand Hilfe für die hungernden Wolga- und Schwarzmeerdeutschen. Diese Hilferufe und sämtliche Kontakte mit Ausländern wertete die sowjetische Führung – anders als während der Hungerkatastrophe Anfang der zwanziger Jahre – fortan als eindeutige Verletzung der Treue zur „sozialistischen Heimat“. Eine Welle der Verfolgung löste ein Telegramm des ZK der Kommunistischen Partei vom 5. November 1934 aus, das die regionalen und lokalen Partei- und Regierungsorgane zum Kampf „gegen die Faschisten und ihre Helfershelfer“ aufforderte.
            Der Politik der Berücksichtigung und Unterstützung zahlreicher nichtrussischer Völker folgte etwa ab Mitte der dreißiger Jahre ein massives Zurückdrängen ihrer berechtigten Anliegen und eine weitgehende Aushöhlung der verbrieften Autonomierechte. Als eine der Konsequenzen dieses Politikumschwungs ist die Erklärung einiger Minderheiten zu „Feindnationalitäten“ zu nennen. Dem offenen und unterschwelligen Vorwurf der potentiellen Schädlings- und Spionagetätigkeit waren in erster Linie solche „westliche“ Minderheiten wie Polen, Finnen und Ingermanländer, Esten, Letten, Griechen und andere Diasporagruppen ausgesetzt; sie fielen dem „Großen Terror“ von 1937-38 überdurchschnittlich hoch zum Opfer:
Vom 1. Januar 1936 bis zum 1. Juli 1938 in der UdSSR verhaftete
Personen, nach Nationalitäten gelistet

Nationalität
Zahl der Verhafteten,
absolut
Anteil an der Gesamtzahl der Verhafteten, in %
Anteil der Nationalität an der Gesamtbevölkerung der UdSSR, in %




Russen
657 799
43,6
58,4
Ukrainer
189 410
13,3
16,5
Polen
105 485
7,4
0,4
Deutsche
75 331
5,3
0,8
Weißrussen
58 702
4,1
3,1
Juden
30 542
2,1
1,8
Letten
21 392
1,5
0,1
Finnen
10 678
0,7
0,1
...
Insgesamt
1 420 711
100
100
Als eine der ersten sowjetischen Minderheit mußten die Deutschen massenhafte Verschickungen aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit erleiden. Am 28. April 1936 faßte der Rat der Volkskommissare der UdSSR den Beschluß Nr. 776-120 ss „Über die Aussiedlung von 15.000 polnischen und deutschen Haushalten aus der Ukrainischen Sowjetrepublik und ihre wirtschaftliche Einrichtung im Gebiet Karaganda der Kasachischen SSR“, davon waren offiziellen Angaben zufolge 69.283 Personen aus den Grenzgebieten der Ukraine betroffen.
            Allein in der Ukraine kam es im Zuge der „deutschen Operation“ des Volkskommissariats (Ministeriums) für Innere Angelegenheiten (NKWD) in den Jahren des „Großen Terrors“ 1937-38 zur Verurteilung von 21.229 Personen, davon wurden allein 18.005 erschossen. Obwohl der Anteil der Deutschen an der Republikbevölkerung nur 1,4% betrug, gehörten sie mit 14,7% (!) der Liquidierten zu den am meisten verfolgten nationalen Gruppen. Eine grausame Statistik ergibt sich ferner aus der Tatsache, daß im Alter von 20 bis 59 Jahren fast ein fünftel (18%) und im Alter von 30 bis 49 fast ein Viertel (22%) der deutschen Männer erschossen wurde! Diese Verfolgungswelle erzeugte in großen Teilen der deutschen Minderheit panische Angst, apokalyptische Vorstellungen, Demoralisierung, innere Ablösung vom Sowjetstaat, aber auch Haß und Rachegefühle. Ohne Berücksichtigung der jahrzehntelangen Unterdrückungs- und Terrormaßnahmen des Sowjetsystems bzw. seiner Träger kann das Verhalten der Schwarzmeerdeutschen unter rumänischer und reichsdeutscher Besatzung nicht angemessen beurteilt werden.
Die Zahl der im Zuge der „Deutschen Operation“ des NKWD der Jahre
1937-1938 verurteilten und erschossenen Personen

Territorium
Verurteilungen
Anteil der Erschossenen, in %
insgesamt
darunter zur Todesstrafe




Ukrainische SSR
21 229
18 005
84,8
Region Krasnodar
2 895
2 784
96,2
Gebiet Nowosibirsk
2 645
2 548
96,2
Gebiet Leningrad
2 919
2 536
90,0
Region Altaj
3 171
2 412
76,0
Gebiet Swerdlowsk
4 379
1 464
33,3
Gebiet Tscheljabinsk
1 626
1 434
87,7
ASSR der Krim
1 625
1 391
85,3
...
Gesamt UdSSR
55 005
41 898
76,2
            Die Nachkommen der einstigen Kolonisten galten im sozialistischen Staat stalinistischer Prägung also zunehmend als Belastungsfaktor: durch ihren Widerstand, der sich u.a. in einer Emigrationsbewegen ausdrückte, durch vielfältige verwandtschaftliche, landsmannschaftliche und kirchliche Kontakte mit dem Ausland, durch verzweifelte Hilferufe an reichsdeutsche Personen und Organisationen erfuhr die Weltöffentlichkeit von dem wahren Ausmaß der Hungerskatastrophe 1932-33, der ausnahmslosen Enteignung, strafrechtlichen Verfolgung und religiösen Unterdrückung in der Sowjetunion. Noch lange vor dem Krieg, im Klima der Klassenfeind-, Sabotage-, Schädlings- und Spionagehysterie, galten die Nachfahren der Kolonisten aufgrund ihrer sprachlichen Verwandtschaft mit dem „kapitalistischen“ und später auch „faschistischen“ Deutschland zunehmend als verdächtig. Zahlreiche Strafprozesse in der Wolgadeutschen Republik, in der Ukraine, in Sibirien, Leningrad oder Moskau gegen die „Agentur des Klassenfeindes“, „reaktionäre“ katholische und evangelische Geistliche oder „bürgerlich-nationalistische Gruppen“, gegen „Mitglieder der faschistischen antisowjetischen Organisationen“ bzw. „Gestapo-Agenten“, (nicht selten mit deutschen oder österreichischen Emigranten „vermengt“), lieferten seit Ende der 1920er Jahre einen Vorgeschmack darauf, worauf sich die deutschstämmigen Sowjetbürger im Falle eines Krieges wohl einstellen mußten, unabhängig von ihren politischen Ansichten oder ihrer Klassenzugehörigkeit. Der 1941 ausgebrochene Krieg bot schließlich den willkommenen Anlaß, sich über deren Rechte gänzlich hinwegzusetzen.

Der Krieg und seine Folgen
Der ausgebrochene deutsch-sowjetische Krieg führte zweifelsohne zu einer Radikalisierung der sowjetischen Vorgehensweise in Bezug auf ethnische Fragen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Sowjetunion wagte die sowjetische Führung die gewaltsame Auflösung eines etablierten und von der Verfassung geschützten nationalen Territoriums - eine qualitative Steigerung in der Praxis des bolschewistischen Terrors. Wie sich zeigen sollte, diente die Vorgehensweise den Rußlanddeutschen gegenüber als Vorlage zu späteren ethnischen Säuberungen im In- und Ausland.
            Die Liquidation der ASSR der Wolgadeutschen im August 1941 und die totale Verbannung aus dem europäischen Teil der Sowjetunion markierten den Übergang zu einer breitangelegten Verfolgung und Diskriminierung der gesamten Minderheit. Ob der in seinem dörflichen Milieu tief verwurzelte Kolchosbauer oder rücksichtslose stalinistische Funktionär, ob weitgehend russifizierte Stadtintellektuelle oder alter Bolschewik, Mitglied der Gottlosenbewegung oder tiefgläubiger Katholik, kommunistischer Vorzeigearbeiter oder bereits enteigneter Großbauer, ob Hochschulprofessor oder Offizier - niemand wurde vor der totalen Entrechtung verschont; ausschlaggebend war allein die ethnische Zugehörigkeit.
            Die seit Januar 1942 praktizierte umfassende Aushebung von Jugendlichen, Männern und Frauen in Zwangsarbeitslager, von den Politoffizieren in den Einsatzorten und später von den Behörden verschleiernd trudovaja armija bzw. trudarmija – Arbeitsarmee genannt, schloß die deutsche Minderheit endgültig aus dem Kreis der „gleichberechtigten“ sowjetischen Völker aus. Der rechtliche Status dieser Mobilisierten kann als eine Art Mischung aus Lagerhäftling, Bauarbeiter und Militärangehöriger bezeichnet werden, wobei die Lagermerkmale dominierten. Ähnlich wie die GULAG-Häftlinge wurden sie für Schwerst- und unqualifizierte Arbeiten eingesetzt: beim Bau von Eisenbahnlinien und Industriebetrieben, für die Öl- bzw. Kohleförderung oder beim Holzeinschlag. In den Einsatzorten vornehmlich auf dem Ural und in Sibirien kam es zu geballten Repressionen und Einschüchterungen der rußlanddeutschen Zwangsarbeiter seitens des Innenministeriums und der Organe der Staatssicherheit NKWD-NKGB.
Eingangstor des Lagers, 1942.      Erste deutsche Zwangarbeiter, 1942.      Der Befehl, Dezember 1942.

Tscheljabmetallurgstroj des NKWD der UdSSR, das größte Zwangsarbeitslager für die Rußlanddeutschen.
Es wurde in der Nähe der Stadt Tscheljabinsk für den Bau eines metallurgischen Kombinats errichtet.
Im Verlauf des Krieges waren in diesem Lager nicht weniger als 38.000 Zwangsarbeiter im Einsatz,
in der überwiegender Mehrheit Rußlanddeutsche, aber auch sowjetische Bürger finnischer,
ungarischer und sogar italienischer Nationalität. Es bestand bis April 1947.


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            Eine weitere Stufe der bürgerlichen Entrechtung stellte der Beschluß des Staatlichen Verteidigungskomitees vom 7. Oktober 1942 dar, der eine Mobilisierung der deutschen Frauen im Alter von 16 bis 45 Jahren anordnete. Nur Schwangere und Mütter von Kindern unter 3 Jahren durften freigestellt werden. Diese massenhafte Rekrutierung von Frauen durch die Sammelstellen des Volkskommissariats für Verteidigung, ihre Unterstellung unter die Militärgerichtsbarkeit und die jahrelange Trennung von ihren Kindern und Familienangehörigen stellte ein weitgehend einmaliger Vorgang nicht nur in der sowjetischen, sondern in der ganzen europäischen Militärgeschichte dar.
            Darüber hinaus wurden im Arbeitslager jegliche Beziehungen mit rekrutierten Deutschen, die außerhalb der notwendigen beruflichen Kontakte standen, strikt untersagt. Vor allem Verhältnisse mit russischen Frauen unterlagen repressiven Maßnahmen: Wegen „intimer Kontakte mit einem mobilisierten Deutschen und nachlassender Wachsamkeit“ verlor die Komsomolzensekretärin einer Grundorganisation im Straf- und Arbeitslager Iwdel im Gebiet Swerdlowsk ihren Posten und wurde aus dem Kommunistischen Jugendverband ausgeschlossen. Eine Ärztin auf der Baustelle des Tscheljabinsker Hüttenkombinats mußte öffentliche Anprangerungen hinnehmen, weil sie sich in ihrer Wohnung mit einem Zwangsarbeiter einige Male traf, und das „entgegen den strengen Vorschriften der Bauverwaltung, die dem vertragsfreien Personal Beziehungen jeglicher Art zu arbeitsmobilisierten Deutschen untersagen“.
            Keine andere Ethnie in der Sowjetunion hat solch eine tiefgreifende physische Ausbeutung erlebt: von den 1,1 Mio. Rußlanddeutschen, die sich während des Krieges im sowjetischen Machtbereich befanden, mußten etwa 350.000 Jugendliche, Männer und Frauen Zwangsarbeit leisten. Eine verläßliche Zahl der Opfer läßt sich bislang nicht quantifizieren; die Sterblichkeitsrate soll Hochrechnungen einzelner Lager zufolge nicht weniger als 20% betragen haben.
Besonders litten sie unter der fast ins Unermeßliche gestiegenen germanophoben Propaganda, unter der gesellschaftlichen Ächtung und den Anfeindungen aus der Bevölkerung. Nach dem Scheitern anfänglicher Versuche, den anrückenden Gegner mit klassenkämpferischen Parolen der internationalen Solidarität der Arbeiter und Bauern zu beeinflussen, überschritten die sowjetischen Massenmedien rasch die Schwelle zu ungehemmten Haß- und Greueltiraden. „Deutscher“ und „Faschist“ galten so immer mehr als Synonyme, was für die Rußlanddeutschen fatale Folgen haben sollte. Unzählige Beiträge in Flugblättern und Zeitungen, Büchern und Zeitschriften, Radiosendungen und Filmen, wo in erster Linie gegen Deutsche heftig Stimmung gemacht wurde, vergifteten das Verhältnis der anderen Nationalitäten zu den Deportierten merklich. Zumal die Behörden zwischen den „eigenen deutschen Bürgern“ und der Angreifernation keinen Unterschied machen wollten. Die weitgehende Entrechtung und Diffamierung dieser nationalen Minderheit löste eine Signalwirkung aus, die der Bevölkerung verdeutlichte, daß die Propagierung eines nationalen Hasses, chauvinistische Äußerungen und jegliche Art von Benachteiligungen erlaubt und straffrei sind. „Zu viel Humanismus lassen wir gegenüber diesen faschistischen Halunken walten“ – mit solchen und ähnlichen Äußerungen über die zwangsausgesiedelten Mitbürger stand ein Rayonparteisekretär aus dem Gebiet Nordkasachstan nicht alleine da.
Der stalinsche Propagandaauftrag lief in letzter Konsequenz auf den Aufruf: „Töte den Deutschen“ und nicht etwa „Töte den Feind“ oder „Töte den Faschisten“ hinaus. Es ist eigentlich zweitrangig, wer diesen extrem haßerfüllten Appell am wirkungsvollsten verlautbart hatte. Aus visueller Sicht sei hierzu besonders das Plakat der Malerin Maria Nesterowa „Papa, töte den Deutschen“ zu erwähnen, das in Hunderttausenden Exemplaren im ganzen Land ausgehängt wurde. Wie tief einige sowjetische Kulturschaffende moralisch gefallen waren, läßt sich aus solchen niederträchtigen Aussagen ableiten, wie etwa: „Der Krieg hat in uns nicht nur den Haß gegen die Deutschen gezüchtet, sondern auch die Verachtung für sie... – das sind keine Menschen, sondern Fritze.“
            Nicht die Sprache oder der Glauben, nicht die Herkunft oder die kulturellen Überlieferungen, sondern in erster Linie die kollektiven Erfahrungen der gesellschaftlichen Ächtung und alltäglichen Anfeindungen, der Erniedrigung und Entrechtung, der Einweisung in Zwangsarbeitslager und das Leben als Sondersiedler unter der Kommandanturaufsicht schufen letztendlich ein übergreifendes Gemeinsamkeitsgefühl und prägen bis heute das nationale und historische Bewußtsein der rußlanddeutschen Minderheit.
Papa, Tote den Deutschen!      Das Titelblatt des Pamphlets, 1943.      Sondersiedlerausweis, 1954.

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            Der gnadenlose Einsatz in den Arbeitslagern beeinflußte nachhaltig ihre räumliche Verteilung, soziale Struktur, ethnodemographische Entwicklung und gesellschaftliche Aktivität. Die Konzentration auf den Baustellen und in den Industriebetrieben zog einen gewaltigen Urbanisierungsschub nach sich; fortan entstand in der vornehmlich bäuerlich geprägten Ethnie eine verhältnismäßig große Gruppe von Arbeitern und technischer Intelligenz. Die langjährige Trennung der deutschen Frauen und Männer, das Leben in einer andersethnischen Umgebung führte zu einer starken Zunahme von Mischehen, was eng mit zunehmenden Akkulturations- und Assimilationsprozessen verbunden war. Die hartnäckige Weigerung der post-stalinistischen Partei- und Staatsführung, substantielle Wiedergutmachung zu leisten, verhinderte die erhoffte Gleichstellung der Rußlanddeutschen mit anderen sowjetischen Völkern, blockierte die Fortentwicklung der eigenständigen Identität und untergrub weitgehend ihre Loyalität zum Sowjetstaat. Der Ausschluß von den Kriegserfahrungen der Sowjetvölker, v.a. das totale Verschweigen ihres opferungsvollen Einsatzes im Rahmen der sog. Trudarmija führten zu weiteren Entfremdungen. Angesichts der verhängten Informationsblockade mußten sie stellvertretend für die tatsächlichen oder erfundenen Verbrechen des Dritten Reiches büßen, sich antideutsche Ressentiments ihrer Nachbarn, Kollegen oder Vorgesetzten gefallen lassen und mit staatlicher Diskriminierungspolitik im sozialen, politischen und kulturellen Bereichen rechnen.
Das Weihnachtslied wurde in Kirillisch geschrieben.

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            Dies löste bei den Betroffenen eine Protesthaltung aus, die sich in unterschiedlicher Weise ausdrückte: zahlreiche Bittschriften an die zentralen Medien und obersten Partei- und Staatsorgane der Sowjetunion wurden verfaßt, kommunistische Aktivisten bildeten Delegationen, die in den 1960er und Anfang der 1970er Jahre von dem ZK der KPdSU und dem Obersten Sowjet der UdSSR die Wiederherstellung der Wolgadeutschen Republik forderten. Dazu kam eine beachtliche Zahl von Deutschen, die als Mitglieder der nichtregistrierten baptistischen, lutherischen, katholischen oder mennonitischen Gemeinden in der kirchlichen Opposition standen. Auch die zunehmende Bereitschaft zur Emigration in die Bundesrepublik und kollektive Aktionen, wie die öffentliche Absage an die sowjetische Staatsbürgerschaft, waren sichtbarer Ausdruck der verbreiteten Unzufriedenheit. Ausreisewillige waren in erster Linie jene Schwarzmeerdeutschen und ihre Nachkommen, die unter die reichsdeutsche bzw. rumänische Besatzung geraten waren und 1943-44 nach Warthegau oder in das Altreich umgesiedelt wurden. Fast alle hatten zu dieser Zeit die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen bekommen (sog. „Administrativumsiedler“). Der Großteil von ihnen wurde jedoch am Ende des Krieges in die UdSSR zwangsrepatriiert und in den östlichen Gebieten unter Sonderregime gestellt. So entstand das Problem der Familienzusammenführung, das jahrzehntelang die (bundes)deutsch-sowjetischen Beziehungen belastete. Der Entschluß zur Auswanderung fiel den Betroffenen um so leichter, zumal die seit Ende der 1920er Jahre, aber vor allem seit 1941 betriebene Enteignungs- und Unterdrückungspolitik den einst fest verwurzelten deutschen Landwirt oder Handwerker systematisch zu einem besitz- und heimatlosen Proletarier herabsetzte, der buchstäblich (frei nach Karl Marx) „nichts zu verlieren hatte“.
Erich Abel.      Ein Teil der Delegation der Russlanddeutschen in Moskau, 1965.

Protestbewegungen der deutschen Minderheit.

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            Mit dem beharrlichen Einfordern einer Wiedergutmachung und der Wiederherstellung ihrer religiösen, bürgerlichen und nationalen Rechte trugen die Deutschen zur Delegitimierung und letztendlich zum Zusammenbruch des sowjetischen Unrechtsstaates nicht unwesentlich bei.
            Der kurz nach der Perestrojka zum wiederholten Male unternommene Versuch, die Rußlanddeutschen ein gleichberechtigtes sowjetisches bzw. rußländisches Volk mit einer territorialen Autonomie werden zu lassen, scheiterte erneut. Angesichts der ungesühnten Verbrechen und der fortdauernden Diskriminierung waren die meisten Vertreter dieser leidgeprüften Minderheit schließlich nicht mehr bereit, ihren minderen Status widerspruchslos hinzunehmen und entschlossen sich, in Deutschland den Neuanfang zu wagen. Der Spruch „Als Deutsche unter den Deutschen zu leben“, den viele Zugewanderte als Ausreisegrund angeben und der bei einigen wachsamen Bundesbürgern das Befremden auslöst, bedeutet in Wirklichkeit „Als Gleiche unter den Gleichen zu leben“. Er bleibt nach wie vor aktuell, weil auch in der heutigen Russischen (eigentlich: Russländischen) Föderation nationale Minderheiten ohne eigenes nationales Territorium im Vergleich zu den Titularvölkern weiterhin im politischen und kulturellen Bereich stark benachteiligt sind.
Proteste der Einwohner der Stadt Marx gegen die Wiederherstellung der deutschen autonomen Republik, 1989.

Proteste der Einwohner der Stadt Marx
gegen die Wiederherstellung der deutschen autonomen Republik, 1989.


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In der Bundesrepublik
            Im vereinigten Deutschland leben heute mehr als zweieinhalb Millionen Bundesbürger rußlanddeutscher Herkunft; somit stellen sie einen bedeutenden demographischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Faktor in diesem Land dar. Für ihr Selbstverständnis spielt die Erinnerung an die Unterdrückung und Verfolgung eine prägende Rolle. Dabei waren die Deutschen aus Rußland nicht nur Objekte staatlicher Politik, sondern traten auch als handelnde und bestimmende Personen auf, die Widerstand, Protest und Verweigerung leisteten.
            Auf den ersten Blick ist es erstaunlich, daß die deutsche Minderheit in der Sowjetunion und in der Bundesrepublik vornehmlich als Problem aufgefaßt wurde bzw. wird. In der Sowjetunion äußerte sich dies durch unzählige Beiträge in den Massenmedien, in Propagandabroschüren und wissenschaftlich verbrämten Schriften über das religiöse „Sektenunwesen“, dem eine große Zahl der „Sowjetbürger deutscher Nationalität“ verfallen seien. Auch warf man ihnen eine geringe gesellschaftliche Aktivität und mangelnde sowjetpatriotische Gesinnung vor. Vor allem die Emigrationsbewegung galt als Vorwand für die Beschuldigungen. Somit wurden geschickt Ursache und Wirkung vertauscht. Gleichzeitig mangelte es jedoch nicht an Beiträgen und Berichten über erfolgreiche Kolchosvorsitzenden, Traktoristen und Schweinezüchterinnen, die beispielhafte Arbeitsleistungen vorwiesen. In Nachschlagewerken, historischen Darstellungen und vor allem in Schulbüchern, im Gesellschaftskundeunterricht wurde die Existenz dieses Volkes indes mit keinem einzigen Wort erwähnt.
            In den bundesdeutschen Medien werden die übergesiedelten Rußlanddeutschen ebenfalls überwiegend als Problemfaktor hervorgehoben: eine angeblich hohe Kriminalität, Gewaltbereitschaft, Arbeitslosigkeit, Gettoisierung, schlechte Deutschkenntnisse und mangelnde Integration sind dabei Begriffe, die am häufigsten fallen. Solche infantile Urteile erlauben sich manche Politiker und Wissenschaftler: „Ethnisch privilegierte Zuwanderer“, „die am schwierigsten integrierbare Gruppe“, „selbstgewählte Abschottung“, „religiöse Segregation“, „kaum vorhandene kulturelle Nähe zur Aufnahmegesellschaft“, „autoritäre bzw. rechtslastige Vorstellungen“, „soziokulturelle Fremdheit in Deutschland“ und ähnliches mehr.
            Selbstverständlich gibt es in Deutschland in Bezug auf die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit gewaltige Unterschiede gegenüber dem einstigen Sowjetstaat: so dürfen die Betroffenen über ihre persönliche Erlebnisse ungehindert berichten und schreiben, auch werden regelmäßig Monographien, soziologische Untersuchungen über historische und kulturelle Fragen und über die gegenwärtige Stellung der Volksgruppe in der Bundesrepublik publiziert. Aber es erfolgt eine geringe gesellschaftliche Teilnahme an ihrem Schicksal. Gesamt- und übergreifende Werke wie etwa die Reihe „Deutsche Erinnerungsorte“ berücksichtigen nicht ihre historischen Erfahrungen. Auch hierzulande wird im Schulunterricht auf ihr Schicksal sehr selten eingegangen. Das 65. „Jubiläum“ des Regierungserlasses über die Auflösung der Wolgadeutschen Republik am 28. August 1941, der die bürgerliche Entrechtung und ökonomische Ausplünderung der deutschen Minderheit einleitete und schlechthin als unser nationaler Trauertag gilt, wurde in den hiesigen Medien kaum erwähnt und in der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Das ist um so mehr bedauerlich, da die Bundesbürger rußlanddeutscher Herkunft inzwischen zu einem integralen Teil der deutschen Nation geworden sind. Dies läßt sich vor allem am Verhalten der zweiten (dritten…) Generation der Einwanderer feststellen: sie haben einerseits die rechtsstaatlichen Grundwerte der Aufnahmegesellschaft verinnerlicht und andererseits den Freiheitsdrang ihrer Eltern und Großeltern bewahrt.
            Vor allem das Thema Zwangsarbeit verdient umfassendere Beleuchtung. In Deutschland ist sie unzertrennbar mit der Leidensgeschichte von Millionen jüdischer und osteuropäischer Opfer verbunden. In den Schulen werden Begegnungen mit Zeitzeugen organisiert, die ihr Wissen über die schrecklichen Jahre der nationalsozialistischen Diktatur an die jüngere Generation weitergeben und somit einen wichtigen Beitrag zu demokratischen und freiheitlichen Erziehung leisten. Die vergleichbaren Erlebnisse der rußlanddeutschen Zwangsarbeiter sind dagegen noch nicht in den Schulunterricht einbezogen worden, obwohl sich hier im Lande bereits Zehntausende Überlebende der sowjetischen Straf- und Zwangsarbeitslager befinden. Vor allem beim Thema „Geschichte der UdSSR“ würden ihre Lebenserinnerungen zum besseren Verständnis der stalinistischen Diktatur, der menschenverachtenden Praxis des Terrors, der Zwangarbeit, Verfolgung und Diskriminierung im sowjetischen Staat beitragen. Die Aktualität dieser Problematik ergibt sich auch aus der Tatsache, daß in vielen Ortschaften und Städten der Anteil der Schüler aus Familien mit rußlanddeutschem Hintergrund bereits im zweistelligen Bereich liegt.
            Schließlich möchte ich daran erinnern, daß sich im Juli 2013 zum 250ten Mal die Verkündigung des berühmten Einladungsmanifests der russischen Zarin Katharina II. jährt, welche die eigentliche Geburtsstunde der rußlanddeutschen Volksgruppe markiert. Gleichzeitig hoffe ich, daß sich die deutsche Gesellschaft auch für diesen Teil ihrer Geschichte öffnet und anläßlich dieses Jubiläums ein sichtbares Zeichen der Erinnerung an das kollektive Schicksal der Bundesbürger rußlanddeutscher Herkunft in Form eines ihnen gewidmeten zentralen Dokumentationszentrums und Museums setzt.
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